Erlebnis Indien
Kolkatta, 20 Uhr, Ankunft im Hotel im Norden der Stadt nach 1 1/2 Stunden Fahrt, großteils im Stau, bis hierher, wir sind schon etwas genervt und müde. Doch wir haben ein Problem, ein Geldproblem. Keine einzige Rupie in der Tasche sitzen wir in Indien im Hotel und wissen eigentlich nicht wie es weitergehen soll.
22 Uhr, der Portier teilt uns mit, dass es nun doch Geld am Bankomaten geben soll und zeigt mir den Weg dorthin. 2000 Rupien (28 €) können heute Abend noch abgehoben werden. Morgen wieder Zweitausend.
Es ist dunkel, weit dunkler als wir es gewöhnt sind mitten in einer Stadt, nur die lauten Autos und Rikschas werfen manchmal spärliches Licht in die Ecke wo versteckt der Bankomat steht. Und ich bin nicht alleine, reihe mich ein in die Schlange der Menschen welche versuchen Geld fürs tägliche Leben zu bekommen. Das Weiße in den Augen verrät die neugierigen, auf mich gerichteten Gesichter in der Dunkelheit. Nach vorne wird die Schlange nur langsam kürzer, nach hinten schnell länger.
Ein kleines Mädchen sitzt etwas abseits mit ihren zersausten Haaren am Gehsteig und weint. Zarte Tränen befeuchten ihre Wangen. Als ich sie entdecke versteckt sie ihren Kopf verschämt zwischen ihren Händen und Beinen und schluchzt weiter. Einige Minuten später erscheint eine junge Frau, vermutlich ihre Mutter, ausgerüstet mit einem Jutesack voll mit ihren Habseligkeiten. Daraus holt sie einen kleinen Reisigbesen, säubert damit den Gehsteig und richtet für diese Nacht ihre Schlafstätte her. 4 Quadratmeter Beton gehören ihnen in dieser Nacht und keiner macht sie ihnen streitig.
Die Menschen in der Schlange mit dem Geldproblem registrieren sie gar nicht, schauen nicht einmal hin, auch nicht verstohlen. Nein, ich scheine nach wie vor das Interesse zu wecken. Es ist ungewöhnlich hier, wenn ein Fremder sich um Geld anstellt jedoch nichts Ungewöhnliches, wenn jemand auf der Straße schläft.
Früher nächster Morgen in der selben Stadt. Mein gestriger Geldspender spukt heute kein Geld mehr aus. Auf der Suche nach einem anderen ATM finde ich mich abseits in einer Gasse wieder, welche gerade zum Leben erwacht und in mir Neugierde weckt. Kleine, mehr Hütten als Häuser, säumen links und rechts die schmale Straße. In vielen der Hütten stehen bunte Figuren aus Ton oder Mehlteig geformt, welche hier von den Bewohnern der Straße für ein hinduistisches Fest angefertigt werden. Im Vorbeigehen kann ich neugierig beobachten, wie die hier lebenden Menschen noch schlafen, sich waschen, ihre Notdurft verrichten, kochen, frühstücken, handwerken oder einfach nur dasitzen - und sie können mich beobachten. Und sie beobachten mich, können sehen wie unsicher ich mich hier fühle, fremd, eingedrungen in eine andere Welt, fehl am Platz. Komme mir provokant vor mit meiner teuren Kamera in der Hand, hier, in dieser einfachen Umgebung. Wie ein dunkler Schatten breitet sich meine Unsicherheit weiter aus, ich will dem entkommen, jedoch nicht weggehen. Denn so anders ist die Welt hier, sehe intensives Leben wie kaum je zuvor.
Ich bewege mich langsam weiter, ein neues, von der Sonne gegerbtes Gesicht mit dunkelbraunen Augen fokussiert mich. Ich will flüchten, versuche zu flüchten aus meiner Unsicherheit indem ich den Blick des alten Mannes standhaft erwidere. Will Zustimmung für mein Hiersein erhalten, indem ich wie ein Inder mit einem leichten Lächeln im Gesicht mit dem Kopf wackle. Es wirkt augenblicklich, der betagte Mann lächelt zurück, wackelt ebenfalls zwei dreimal mit dem Kopf und gibt mir damit meine Sicherheit zurück. Der von mir eingebildete Schatten im Gesicht des Mannes verschwindet sowie die unsichere Dunkelheit der ganzen Straße.
Mittagszeit im Bahnhofsviertel von Patna, Zwischenstation, noch bleibt ein wenig Zeit zu bleiben. Ich verlasse das einfache, aber saubere Straßenlokal, wo wir eine Kleinigkeit gegessen haben in Richtung eines kleinen Marktes. Wie so oft auf Reisen ist auch heute auf diesem Markt mein Fotoapparat das Bindeglied zwischen den fremden Menschen hier und mir. Bei Kindern aber auch Erwachsenen (meist Männern) weckt die Kamera Interesse und sie wollen oft von sich aus fotografiert werden um danach das Foto lachend zu bewundern.
Beim Retourweg huscht eine Gestalt am Boden an mir vorbei, bevor ich ein leises „PLEASE“ registriere. Ich drehe mich um und schaue in das Gesicht eines behinderten Jungen. Körperlich stark beeinträchtigt, nicht fähig aufrecht zu gehen sondern auf allen Vieren wie ein Tier sich fortbewegend hockt er vor mir. Die Augen glänzen, nachdem ich im eine Kleinigkeit gegeben habe. Ich gehe nachdenklich weiter, ein weiteres schüchternes „PLEASE“ lässt mich jedoch nochmals aufhorchen. Bittend gibt er mir zu verstehen, dass er fotografiert werden will. Im ersten Moment zögernd weil das nicht glaubend mache ich natürlich ein Foto von ihm. Als ich nach einiger Zeit bereit bin mir das Foto anzuschauen, blickt mir ein strahlendes und willensstarkes Gesicht voller Zuversicht entgegen. Noch bin ich mir nicht sicher, aber nach meiner Wertvorstellung ist es angebracht das Foto zu löschen. Das Bild jedoch, den Augenblick selber habe ich in mir, unauslöschlich, unvergesslich.
Viele Erlebnisse dieser Art prägen täglich meine Reise durch Indien, intensiv wahrnehmend beeindruckt mich das Erlebte, beschäftigt es mich oft auch noch Tage danach.
Wenn unterwegs versuche ich bewusst hinzusehen, sehe dabei alte Menschen, spielende Kinder, Kranke und Behinderte, fröhliche Gesichter, schlafende Hunde, magere und fette Kühe, schützende Häuser, Bretterbuden, Armut und Wohlstand nebeneinander. Alles spielt sich auf der Straße ab und hat dort seinen Platz, fühlt sich an wie eine zufällig gereihte Perlenkette mit schönen, weniger schönen und hässlichen Perlen nebeneinander. Das eine stellt für das andere scheinbar kein Hindernis dar, alles fügt sich ineinander. Wie ein buntes Puzzle, in dem der oft unglaubliche Müll das fertige Bild wie ein Rahmen abrundet und man das falsche Gefühl hat, er gehöre einfach dazu.
Das „durchschnittliche" Indien den Müll betreffen nochmals weit überbietend, so haben ich Bodhgaya erlebt. Siggerwiesen nix dagegen, das stellte Wolfgang bereits vor Jahren auf einer Reise durch Indien fest. Zum Weltkulturerbe ernannt der Mahaboddhitempel, wo Buddha vor langer Zeit zu seiner Erleuchtung gelangte, daher ist der Ort sozusagen ein Wallfahrtsort für alle gläubigen Buddhisten.
Eigentlich keine Stadt sondern ein größerer Ort, wird mit den vielen Pilgern und Touristen nicht fertig, auch daher vermutlich Vermüllung Ende nie.
Obwohl eigentlich eine funktionierende Mülltrennung vorhanden, denn Biomüll wird Tag und Nacht effizient vom Restmüll getrennt, sogenannte Müllschlucker arbeiten fleißig, praktische 24 Stunden am Tag und kümmern sich, sofern sie nicht gerader schlafen, vorbildlich um die Trennung des Biomülls vom Rest des Unrates. Die Rede ist von den Kühen, Hunden, Hühnern und Schweinen, welche vermutlich ohne die Müllberge nicht überleben würden. Auch einer der Gründe, warum ich in Indien überzeugter Vegetarier bin. Und schön langsam Antialkoholiker. Kein Bier in Bihar und Umgebung sorgen für eine trockene Phase unglaublichen Ausmaßes bei uns. Alkoholgenuss ist bei hoher Strafe und Arrest strengstens untersagt.
Und schön langsam frag ich mich ob ihr euch fragt, warum wir überhaupt noch hier sind ?
In Varanasi spüre ich das gelebte Nebeneinander nochmals verstärkt. Die heilige Stätte der Hindus schlechthin, wo der Ganges als der heilige Fluß verehrt wird. Hier zu baden reinigt von den Sünden, hier zu sterben bringt die Gläubigen dem Ziel, das Nirvana zu erreichen, näher.
An den so genannten Burning Ghats werden die Leichen öffentlich verbrannt. Fotografieren ist streng verboten, um 5€ pro Foto ist man aber trotzdem life dabei. Geld regiert die Welt, auch hier, am Ende des Lebensweges, gilt diese weltweit gültige Erkenntnis.
Ich spare mir das Geld aus mehreren Gründen. Auch kann kein Foto das Treiben und die Stimmung hier wiedergeben.
Das Fließen des Wassers des Ganges scheint hier Pause zu machen, wie in einem See, so ruhig ist die Strömung im Bereich des russigen Ghats. Schwarze Asche, sowohl das Ende des Lebens hier untrüglich zeigend, als auch die Voraussetzung und der Dünger für ein anderes Leben, vermischt sich mit dem schmutzigen Wassers des Flusses und schwimmt wie ein dicke Brühe oben drauf.
Unmittelbar daneben wartet eine weitere Leiche auf einer Bahre auf ihr unausweichliches Schicksal, gerade eben von 6 Männern über die Stufen zum Ganges in eiligem Schritt heruntergetragen, gefolgt von einigen, sich unterhaltenden Verwandten. Der Leichnam, ein Mann und daher in weiße Tücher eingewickelt, liegt auf einer schlichten Bambusbahre, glitzernde Folien und orange Ketten aus Tagetis, der heiligen Blume der Hindus, schmücken ihn schlicht auf seinem letzte Weg. Der Tote wurde in das Wasser des heiligen Flusses gelegt, wird so hier zum letzten Mal symbolisch gewaschen. Dahinter wurde bereits ein Holzstapel aufgeschlichtet, wo in Kürze die öffentliche Verbrennung stattfinden wird.
Ungewöhnlich gelassen betrachte ich die Vorbereitungen für die Bestattung, jedoch das Leben rund um das öffentliche Krematorium wirkt auf mich skurril. Neben der noch nicht mit Feuer entfachten Verbrennungsstelle zähle ich heute fünf, schon fast abgebrannte Scheiterhaufen. Ein Mann versucht mit einem langen Stock nochmals die optimale Hitze aus dem Feuer herauszuholen. Im kalten Wasser stehend sammelt ein anderer Mann mit nacktem Oberkörper die herumschwimmende nasse Asche mit einem Eimer ein, ein weiterer schafft auf seiner Schulter zusätzliches Brennholz herbei. Inmitten des Geländes nützen Kühe und Büffel die Gelegenheit und fressen, um zu überleben, den auf der Erde liegenden Blumenschmuck der Verstorbenen. Kinder spielen lachend am Rande des Geschehens, lassen Papierdrachen steigen, welche durch die aufsteigende heiße Luft optimale Bedingungen vorfinden. Ein weiterer Trupp, verantwortlich für den Verkauf und das Abwiegen des Brennholzes scheint gerade nichts zu tun zu haben und spielt konzentriert Karten. Einer wird gewinnen. Der Herzober sticht den Herzunter, das Spiel ist aus.
Die nächste Leiche wird die Stiege heruntergetragen, schnell und zielgerichtet. Kein Jammern oder Weinen ist zu hören.
Die Karten werden neu gemischt, ein neues Spiel beginnt.
All diese Zeilen beschreiben für mich das Leben hier in den armen Gegenden Indiens. Fast ein wenig romantisch mag es manchmal vielleicht zwischen den Zeilen klingen, welche ich Gedanken versunken nun niederschreibe. Es ist mir jedoch bewusst, dass das Leben hier alles andere als romantisch ist. Im Gegenteil, viele der Menschen da leben in einer unglaublichen Armut und kämpfen jeden Tag aufs Neue um ihr tägliches Brot. Ich bin überzeugt, dass meist nur der tiefe Glaube es Ihnen ermöglicht, ihr Schicksal zu ertragen. Die Romantik gesellt sich in den Zeilen nur dazu, für mich dazu, um das Gesehene und Erlebte auf meine Weise verarbeiten zu können.
Hallo liebe Weltreisende,
AntwortenLöschenwie die Zeit vergeht, jetzt seid ihr schon fast ein halbes Jahr unterwegs. Eure Reiseberichte und Fotos lassen uns ein bisschen teilhaben an eurer Reise, danke dafür.
Ich lese gerne eure Erzählungen, obwohl tauschen möchte ich lieber doch nicht mit euch, ich glaube, dass wäre mir persönlich zu anstrengend.
Es ist beeindruckend wieviele verschiedene Kulturen und Menschen ihr kennenlernt und wie ihr mit den unerwarteten Hindernisse oder Komplikationen umgeht.
Wir wünschen euch ein schönes Weihnachtsfest und für 2017, dass alles so kommt, wie ihr euch das vorstellt.
Liebe Grüße aus Seekirchen
Maria und Manfred
Liebe Maria, lieber Manfred,
AntwortenLöschenso schön, von euch zu lesen. Vielen Dank für euren Beitrag!
Auch wir wünschen euch frohe und gesegnete Weihnachten und einen guten Rutsch in ein interessantes und gesundes 2017!
Ganz liebe Grüße auch an Manuela und Thomas! Wie geht es ihnen?
Wir freuen uns auf ein gemeinsames Bierchen am See ;)!
LG aus Laos
Renate und Josef